Quelle: junge Welt
F: Sie gehören zu dem Rechtsanwaltsteam, das den PKK- Vorsitzenden
Abdullah Öcalan verteidigt. Öcalan wurde zum Tode verurteilt, Sie
haben dagegen Einspruch vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof
erhoben. Wie ist der aktuelle Stand des Verfahrens?
In der Türkei ist das Verfahren gegen unseren Mandanten juristisch
abgeschlossen, die möglichen Rechtswege sind ausgeschöpft. Wir haben
uns jetzt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt.
Unsere Eingabe besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil bezieht sich auf
den Prozeß in der Türkei und auf die unrechtmäßige Verschleppung
unseres Mandanten. Der zweite Teil betrifft die internationale
Verantwortung für die Verschleppung, speziell die Rolle von
Griechenland, Italien, Deutschland, Holland und Rußland. Die damalige
italienische Regierung unter D'Alema zum Beispiel verhielt sich zunächst
positiv. Aber das weitere Vorgehen Italiens verstieß sowohl gegen
internationales als auch gegen nationales italienisches Recht.
F: Wird es sich positiv auswirken, daß - nach der Verschleppung -
ein römisches Gericht den Asylantrag von Abdullah Öcalan anerkannte
und die italienische Regierung dazu verurteilte, die Kosten des
Verfahrens zu übernehmen?
Lassen Sie mich zunächst noch auf die Verantwortung der anderen Länder
eingehen. In der russischen Duma hatten sich 189 Abgeordnete dafür
ausgesprochen, daß Öcalan im Land bleiben konnte, ihm sollte Asyl gewährt
werden. Der damalige Ministerpräsident Primakow aber setzte sich über
diese Entscheidung hinweg, und Öcalan wurde des Landes verwiesen. Öcalan
wollte dann nach Holland fliegen und sich in Den Haag einem Tribunal
stellen. Man ließ aber nicht zu, daß sein Flugzeug landen konnte. Die
holländische Regierung ließ einen Abfangjäger starten. Die Maschine
wurde militärisch gezwungen, abzudrehen. Und was Deutschland betrifft,
wo ein Haftbefehl gegen Öcalan vorlag, verhielt sich die
Bundesregierung sehr widersprüchlich. Um keine Verantwortung in der mit
Öcalan verbundenen »Kurdischen Frage« übernehmen zu müssen, hob man
kurzerhand den Haftbefehl gegen ihn auf.
Nun noch zu Ihrer Frage: Italien hat gegen nationales Recht verstoßen,
denn es hat nicht verhindert, daß der Führer einer politischen
Organisation an das Land ausgeliefert wird, in dem ihm die Todesstrafe
droht. Warum sollte sich die nachträgliche Anerkennung des Asyls für
Öcalan positiv auswirken? Es hat keinen praktischen Wert, nachdem der
Betroffene ausgeliefert wurde.
F: Wie ist der Gesundheitszustand Ihres Mandanten? Hat sich seine
Haftsituation verbessert?
Nein. Während des Prozesses gegen unseren Mandanten, konnten wir ihn
vier Stunden pro Woche besuchen. Nach dem Urteil wurde unser
Besuchsrecht zunächst auf zwei, schließlich auf eine Stunde pro Woche
begrenzt. Er erhält drei Zeitungen, die zensiert werden. Er hat ein
Radio, auf dem er nur einen Sender empfangen kann, den staatlichen türkischen
Rundfunksender. Wir haben auch wegen der Haftsituation eine Eingabe an
den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerichtet.
F: Wie ist es mit Briefkontakten von Herrn Öcalan? Kann er Briefe
schreiben und empfangen? Es heißt, daß ein Kontakt zwischen ihm und
Mumia Abu-Jamal, dem zu Tode verurteilten Journalisten in den USA,
besteht?
In unserem Büro kommen Tausende Briefe für ihn an. Wir versuchen,
sie an ihn weiterzuleiten, aber das gelingt fast nie. Nur ganz wenige
Briefe erreichen ihn tatsächlich. Oft hat er nicht einmal Stift oder
Papier, um selber schreiben zu können. Was Mumia Abu-Jamal betrifft: Am
14. Juni hat Öcalan uns darum gebeten, Abu-Jamal ausrichten zu lassen,
daß er sich auch für ihn einsetzen wird. Sobald er die Gelegenheit hätte,
wolle er ihm schreiben. Öcalan will sich im Rahmen einer globalen
Kampagne für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzen.
F: Ist die Wahl von Ahmet Necdet Sezer zum türkischen Staatspräsidenten
und sein Verhalten hinsichtlich des bevorstehenden Berichts der EU über
die Lage der Demokratie in der Türkei positiv zu bewerten? Und wie verhält
sich die Bevölkerung in der Türkei?
Wir sagen, die Stunde Null für den Demokratisierungsprozeß in der Türkei
begann mit dem 16. Februar 1999, dem Tag der Verschleppung von Öcalan
in die Türkei. Heute sagen das fast sämtliche Zeitungskolumnisten in
der Türkei. Das zeigt, daß die Entwicklung akzeptiert wird. Ahmet
Necdet Sezer stellt sich mutig auf den Boden des Rechts. Seine Wahl zum
Staatspräsidenten hat viel mit dem Beginn des
Demokratisierungsprozesses in der Türkei zu tun. Wir bewerten die
aktuelle Lage so, daß langsam immer mehr Wissenschaftler und
Intellektuelle die Phase positiv sehen.
Zur Haltung der Bevölkerung in der Türkei muß man wissen, daß die
letzten Regierungen immer sehr autoritär und repressiv gegenüber den
Menschen aufgetreten sind. Daher konnte sich keine Dynamik von unten her
entwickeln. Der Staat stand immer über der Gesellschaft, deshalb gibt
es kein Bewußtsein über staatsbürgerliches Verhalten. Bei uns
entwickelt sich die Demokratie nicht von unten nach oben, sondern
leider, aufgrund der beschriebenen Situation, von oben nach unten.
Interview: Karin Leukefeld
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