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Wie
ein Berner Hochzeitspaar das Fährunglück überlebte
Schwarzenburg
- «Knorrige Küste, wild, pechschwarze Nacht ...» Das ist der letzte
Tagebucheintrag, den Eveline Baumann am Dienstagabend kurz vor 22 Uhr in ihre
Agenda kritzelte. Danach ging sie zu ihrem Ehemann Stefan, der sich an der Bar
der «Express Samina» ein Mineralwasser bestellte. Er fühlte sich etwas
schlecht. Der hohe Wellengang machte ihm zu schaffen. Plötzlich gab es einen
Ruck und ein grollendes Geräusch. «Gläser fielen klirrend um», erzählt
Stefan Baumann, «und wir beide schauten uns komisch an.» Sie gingen auf das
Deck hinaus. In der Ferne sah man Lichter. Das junge Lehrerpaar auf
Hochzeitsreise dachte an nichts Schlimmes. Die beiden überlegten ganz logisch:
«Wenn es etwas Ernstes wäre, sähe man ja die Besatzung, es tönte eine
Notsirene und es würden Schwimmwesten verteilt.»
Das war falsch. Die «Express Samina» mit mindestens 534 Menschen an Bord
versank und riss mindestens 76 Leute in den Tod - ohne dass die Besatzung je in
Erscheinung trat. Das erzählen zumindest die fünf überlebenden Schweizer.
Schiffe scheinen im Leben des Ehepaars Baumann eine wichtige Rolle zu spielen.
Vor sechs Jahren küssten sie sich zum ersten Mal auf einer Fähre, nachdem sie
sich auf Korsika verliebt hatten. Und gemeinsam ist ihr Interesse an der
Geschichte der «Titanic». Dreimal schauten sie sich den Film im Kino und unzählige
Male auf Video an.
Die Passagiere schrien verzweifelt, als
sich die Fähre zur Seite neigte
«Der Film kam uns auch an diesem Abend oft in den Sinn», sagt Eveline Baumann.
Der Schiffsmotor war verstummt, der Strom fiel vorübergehend aus. Eveline
Baumann: «Plötzlich war mir klar: Wir sinken.» Sie riss einen Kasten auf,
fand darin aber nur einen Schlauch. Das Paar sah Menschen mit Schwimmwesten. «He,
wir wollen auch eine!» Aber niemand verstand sie. Irgendwo warfen Passagiere
die Westen in die Menge. Die Baumanns ergatterten zwei und merkten nicht, dass
sie sie über die Rucksäcke anzogen. Gegenseitig zeigten sich die Leute, wie
die Notlämpchen auf der Weste eingeschaltet werden mussten. Es funktionierten längst
nicht alle.
Jetzt rannten die Passagiere, schrien verzweifelt, während sich das Schiff
immer mehr zur Seite neigte. Auch die Baumanns gerieten in Panik. «Ich sagte: Gäu
Steff, das cha nid sii.
Das
cha ned sii.»
Das
Paar, das Mitglied der Freikirche «Neues Land Schwarzenburg» ist, erinnerte
sich an seinen Trauvers: Jeremia 29,11. Sie riefen ihn laut über das Schiff: «Ich
weiss wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken
des Friedens, nicht des Leides. Dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.»
Baumanns sagen, von da an sei es besser gegangen. Ihr Überleben sehen sie als
Berufung, in den Medien von ihrem Glauben zu berichten: «Wenn du heute sterben
würdest, hättest du ein erfülltes Leben gehabt?»
Sie stiegen auf das obere Deck. Dort klammerten sich die Leute an die Reeling,
um nicht abzurutschen. Eveline Baumann drückte einer Frau lange die Hand. «Wir
schauten uns nur hilflos an. Ich wusste, dass ich sie zurücklassen muss.»
«Das Erste, was er sagte, war:
Sorry,
I'm naked»
Das Paar liess sich an einem Tau hinunter über die Schiffswand, die nun wie
eine schiefe Ebene zum Wasser lag. Eveline sprang zuerst. Sie erinnerte sich in
diesem Moment wieder an die «Titanic»: «Ich wusste, dass wir nicht in die Strömung
geraten durften, die zum sinkenden Schiff zog.» Beide schwammen sie wie von
Sinnen. Paddelten mit Armen und Beinen. Stefan sah die Rettungsinsel zuerst. «Ich
packte sie.» Schliesslich kriegte sich das Paar bei der Hand zu fassen.
In der aufblasbaren Insel war bereits ein Grieche. Er zog zuerst die 24-jährige
Eveline zu sich hinauf, gemeinsam zogen sie den 27-jährigen Stefan nach. Die
wilde See trieb die Insel in rasendem Tempo umher. Ein weiterer Passagier
schwamm auf sie zu. «Wir zogen ihn zu uns herauf, und das erste, was er sagte,
war: Sorry, I'm naked.» Ein älterer Mann konnte ebenfalls auf die Insel
gerettet werden. Ein privates Boot nahm die fünf Leute später auf. Sie
erhielten Kleider und Decken. Eveline Baumann: «Erschöpft, seekrank und
erbrechend lagen wir da.»
Später, an Land, traf das Paar die drei anderen überlebenden Schweizer. Es
waren der 23-jährige Bernhard Zbären aus Frutigen mit zwei Kollegen vom
Technikum Biel. Die drei jungen Männer waren auf dem Deck am Plaudern gewesen,
als die Fähre den Felsen rammte. Sie begannen danach aus der Kiste neben sich
die Westen zu verteilen, «weil niemand von der Besatzung zu sehen war», wie
Bernhard Zbären sagt. Die drei fanden Platz in einem Rettungsboot, hatten aber
riesige Angst, als sich der Haken des Bootes unendlich lange nicht vom
Mutterschiff lösen wollte. Und: «Die beiden Schiffsmechaniker auf dem Boot
schafften es erst etwa nach einer Stunde, den Motor zu starten», erzählt Zbären.
Draussen, in Schwarzenburg, muhen die Kühe. Baumanns sitzen in der Dachwohnung
eines Bauernhauses. Das Zimmer ist noch voller Kärtchen und Blumen von der
Hochzeit, auf dem Tisch liegen Zeitungsberichte über das Unglück. Mittendrin
die Agenda, aufgequollen, aber trotz Wasserflecken noch immer lesbar.
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